Hat dein Unternehmen eine Vision – oder sucht ihr gerade danach? Dann helfen euch vielleicht diese Gedanken und Tipps.
Vision: Erwartungen. Nutzen. Esoterik?
Let’s face it: Bei kaum einem Thema vermischen sich Erwartungen, praktischer Nutzen und Management-Esoterik so sehr wie beim Thema Vision.
Ich habe Teams erlebt, die monatelang verzweifelt nach einer Vision gesucht haben, ohne genau sagen zu können, warum eigentlich. Sie waren getrieben von der Vorstellung, dass die Vision der notwendige erste Schritt im Strategieprozess ist. Sie muss erst da sein, bevor der Prozess weitergeht und sich der Erfolg einstellt. Leider fand sich trotz wochenlanger Nabelschau bisher keine Vision. Stillstand war die Folge.
Andere gehen die Sache scheinbar pragmatischer an. Erster Schritt: Die besten Vision-Statements googeln (meistens Patagonia, Nike oder Ben & Jerry’s). Dann die Werbeagentur (teuer) oder ChatGPT (günstig) beauftragen, etwas Ähnliches zu entwerfen. Der Satz wird stolz präsentiert und von Kollegen wie Investoren mit Augenrollen quittiert. Das Thema bleibt kompliziert.
Grund genug, mal kurz zurückzutreten und hinzuschauen:
- Was ist eine Vision eigentlich?
- Woher kommt die Idee?
- Was soll es bringen?
- Was bringt es wirklich?
- Wie entwickelt man eine Vision?
Was ist es?
Die Management-Literatur bezeichnet Vision als ein geteiltes Zukunftsbild, das als Orientierungsgrundlage für die langfristige Unternehmensentwicklung dient. Es wird mal als Leitgedanke, Leitsatz, Nordstern oder großes, mutiges und haariges Ziel beschrieben. Gleichzeitig sind die Grenzen zu ähnlichen Konzepten wie „Mission“ (eher handlungsorientiert) oder „Purpose“ (Zweck/Sinn-orientiert) ziemlich fließend – was gerne mal zu langen philosophischen Debatten in Unternehmen führt, wo das eine anfängt und das andere aufhört.
So unscharf die Definition meist ist, so konkret sind die Anforderungen an die Ausgestaltung einer Vision: Einfach und konkret formuliert soll sie sein, motivierend und zeitlos.
Mich hat dieser Spagat aus schwammiger Definition und konkreten Anforderungen immer genervt. Wer so etwas entwickeln soll, fühlt sich, als müsse er einen Pudding an die Wand nageln.
Ich definiere Vision daher für Workshops einfach als eine Story. Es ist eine Erzählung, die ein Unternehmen entwickelt, um ein gemeinsames Verständnis der Zukunft zu schaffen, die man gestalten möchte. Die Vision(-Story) erzählt, was man als Organisation auf lange Sicht erreichen will.
Woher kommt die Idee?
Das Konzept Unternehmensvision entstand in den 80er- und 90er-Jahren. Wirklich populär wurde die Idee mit dem Buch „Built to Last“. Hier argumentieren die Autoren, dass eine langfristige Ausrichtung entlang einer Vision bzw. einem Big Hairy Audacious Goal Unternehmen auf lange Sicht erfolgreicher macht.
Was soll es bringen?
Das zentrale Versprechen einer Vision liegt in der Fokussierung von Arbeitsenergie. Die Vision erfüllt drei wesentliche Funktionen, die sowohl intern als auch extern wirken sollen:
- Die Orientierungsfunktion: Ein klares, unverwechselbares Zukunftsbild gibt eine langfristige Zielorientierung, die ganze Organisation weiß, worauf sie zuarbeitet.
- Die Identifikationsfunktion: Mitarbeitende identifizieren sich mit dem langfristigen Nutzen ihrer Arbeit – und der Organisation.
- Die Mobilisierungsfunktion: Eine sinnstiftende Vision fördert die Motivation und Handlungsbereitschaft der Mitarbeitenden.
Was bringt es wirklich?
Schwer zu sagen. 😉
Auf der einen Seite gibt es starke psychologische Indizien, dass Menschen und Teams mit einer geteilten Vision motivierter und zielgerichteter zusammenarbeiten. Das allein ist für den Unternehmenserfolg sicherlich ein guter Baustein.
Auf der anderen Seite ist die Beweisführung für anhaltenden Unternehmenserfolg deutlich dünner.
Die Verbindung von Vision und Unternehmenserfolg basiert meist auf anekdotischer Evidenz. Die Auswahl der Beispiele ist selektiv – und meistens wird ausgeblendet, wie viele Unternehmen trotz großartiger Vision gescheitert sind.
Letztlich ist die Beobachtung „Unternehmen X ist erfolgreich, weil es diese Vision hatte“ in sich selbst ein Zirkelschluss. Es ist ein Zirkelschluss, weil der Erfolg oft auf eine Sache zurückgeführt wird, die erst durch den Erfolg sichtbar oder bedeutungsvoll erscheint. Die Beobachtung funktioniert nur in der Rückschau und ignoriert, dass es ganz anders sein kann: Vielleicht hat sich Erfolg trotz der Vision eingestellt. Oder: Nur weil wir als Unternehmen erfolgreich sind, leisten wir uns eine Vision. Und was ist mit den Unternehmen, die trotz großer Vision gescheitert sind?
Unternehmenserfolg ist zu komplex, um ihn auf eine Sache zu fokussieren.
Ich rate daher dazu, den psychologischen Ausrichtungsgewinn zu fokussieren und nicht sofort das Schicksal der ganzen Company an die Vision zu heften.
Es ist vielmehr die Frage: Arbeitet das Team an einer oder zwanzig Geschichten? Und noch pragmatischer: Wenn Mitarbeitende verwirrt sind, was die Zukunft angeht – dann ist das auf jeden Fall ein Indiz für einen Mangel an Vision.
Wie entwickelt man eine Vision?
Betrachtet man Vision als Geschichte, wird der Entwicklungsprozess sofort klarer. Es braucht Autor:innen, die ihre Ideen und Perspektiven sammeln und in eine motivierende Storyline verdichten. In vielen Projekten habe ich Kund:innen geholfen, ihre Unternehmensvision auf den Punkt zu bringen.
Das sind meine zentralen Erfahrungen und Tipps:
→ Das Wichtigste ist, den Druck rauszunehmen. Die Vision ist kein in Marmor gemeißeltes ewiges Gebot, das über Glück und Unglück des Unternehmens entscheidet – es ist eine Story. Eine geteilte Geschichte über die Zukunft, ein „motivierendes Hirngespinst“, das hilft, gemeinsam auf Kurs zu bleiben. Es geht nicht um perfekte Formulierungen, sondern um Bewegung nach vorne. Was Handeln inspiriert, ist richtig. Und weil es eine Story ist, darf und muss man die Vision ändern dürfen, wenn sie nicht mehr zur Welt passt.
→ Klar entscheiden, wer die Vision(-Story) entwickelt.Es gibt Unternehmen, in denen die Vision(-Story) bottom-up, gemeinsam im Team oder mit der ganzen Organisation entwickelt wird. In anderen Unternehmen ist die Vision(-Story) allein Aufgabe von Gründer:innen, CEOs oder Führungskräften.
Jeder Modus kann funktionieren, wenn er transparent ist. Schräg wird der Prozess nur durch „Pseudo-Teilhabe“ – also so zu tun, als ob andere mitarbeiten dürften, obwohl das Ergebnis schon feststeht. Das riechen Menschen 100 Meilen gegen den Wind.
→ Das Vision-Statement wirklich erst ganz zum Schluss formulieren.Erst wenn die Story formuliert ist – es ein Textdokument gibt, in dem man aufgeschrieben hat, wo man hinmöchte – kann man Zeit in ein cooles Vision-Statement investieren. Primäres Ziel für ein Vision-Statement: Eine Eselsbrücke, um die Vision(-Story) intern in Erinnerung zu behalten. Der coole Satz für die Website ist dann die Kirsche oben drauf.
→ Die ganze Story erzählen. Das Vision-Statement hat nur Bedeutung für die Menschen, die Geschichte kennen. Es reicht nicht, den Leuten nur die Eselsbrücke um die Ohren hauen. Vielmehr ist es in der Führungsverantwortung, die Vision(-Story) immer wieder zu wiederholen. Wenn es nervt, dann ist es meist noch zu wenig.
→ Die Vision regelmäßig in Frage stellen. Vielleicht nicht alle vierzehn Tage. Aber einmal im Jahr kann man schon mal kritisch drauf schauen.