Was ist eigentlich ein Narrativ? Was ist der Unterschied zu einer Geschichte? Und was bringt es, das zu wissen? Ein Überblick
Narrativ, Narrativ, Narrativ – das Wort tönt gerade aus jeder Ecke. Politiker:innen und Unternehmen fordern „neue Narrative“ oder kritisieren die Narrative der Anderen. Auch ich benutze das Wort ziemlich häufig. Um so wichtiger, sich mal zu fragen, was zur Hölle ein Narrativ eigentlich ist?
→ Was ist ein Narrativ
Ein Narrativ ist, extrem vereinfacht, ein „Bedeutungskern“. Es ist eine kleine, oft verborgene, aber mächtige “So ist das!”- Aussage. Narrative sind in jeder Story verborgen – und geben uns mit, wie die Welt (scheinbar) funktioniert. Dabei wirken diese kleinen Leit-Erzählungen wie Bauernregeln: Oft genug wiederholt, formen sie unsere Realitätsvorstellungen und beeinflussen unser Handeln.
Ein Beispiel: Wer an das Narrativ „Männer und Frauen können keine Freunde sein“ glaubt, wird sich anders verhalten als jemand, der das für völligen Blödsinn hält.
Wie wirkungsmächtig diese Narrative sind, lässt sich z.B. in den Büchern „Erzählende Affen“ von Samira El Ouassil und Friedemann Karig oder „Metaphors We Live By“ von George Lakoff und Mark Johnson nachlesen.
„In allen Geschichten liegen, wie in diesen russischen Puppen, kleinere Einheiten. Kerne des Erzählten, aus denen unzählige weitere Geschichten sprießen können. Wir nennen sie ›Narrative‹. Sie tragen unterschwellige Botschaften durch die Welt: angebliche Ursachen, Wirkungen, Verbindungen, Konflikte, die wir uns selten vergegenwärtigen und die wir doch immer und immer wieder erzählt bekommen und nacherzählen.“ (Samira El Ouassil, Friedemann Karig: Erzählende Affen: Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen)
→ Was ist der Unterschied zu einer Geschichte?
Im Gegensatz zu Narrativen sind Geschichten kausale „Ketten von Ereignissen“. Sie erzählen: „So war das“ – und bilden wie bei einer Kirsche den süßen Fruchtkörper um den Bedeutungskern. Je emotionaler und spannender eine Geschichte erzählt wird, desto weniger hinterfragen wir die darin enthaltenen Narrative. Nehmen wir den Film „Harry und Sally“: Die Story von zwei Freunden, die ein Paar werden, ist eine (wenn auch fiktionale) kausale Ereigniskette. Sie hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Gleichzeitig bedient der Film offen das oben genannte Beispiel-Narrativ.
Eigentlich jede Story enthält mindestens ein Narrativ, oft sogar mehrere. Viele Stories werden gezielt entwickelt, um ein Narrativ zu setzen und zu verbreiten – besonders deutlich ist das in Werbung und Politik.
Gleichzeitig tragen alle Geschichten auch kulturelle Narrative weiter. Diese kulturellen Narrative sind uns meist gar nicht als solche bewusst sind. Sie tarnen sich für Sendende und Empfangende als natürliche und immer schon dagewesenen Wahrheiten – doch das sind sie nicht.
Unsere kulturellen Vorstellungen (z.B. über Gesellschaft, Sexualität, Gender oder oder Klima) basieren auf immer wieder geteilten, sich selbst verstärkenden Narrativen – solange bis eine Gesellschaft beginnt, diese zu hinterfragen und neu auszuhandeln. Kultur ist letztlich ein feingewebtes System der geteilten Narrative, Geschichten und Glaubenssätze. Und wenn sich die geteilten Narrative verändern, verändert sich auch die Realität.
→ Warum sind manche Narrative erfolgreicher als andere?
Der Erfolg von Narrativen hängt dabei von der Reichweite, der Frequenz und der emotionalen Wirkung der Geschichten ab, die sie transportieren. Dabei spielen Medienmacht und Deutungshoheit natürlich eine riesige Rolle. Wer viel Macht im Medienzirkus hat, kann Narrative wirkungsvoller setzen. Und dabei kommt es leider nicht auf deren naturwissenschaftlichen Wahrheitsgehalt an.
→ Warum ist dieser Unterschied wichtig?
→ Im Alltag
Die Differenzierung von Narrativ und Story lässt einen auf Parties very smart wirken. Aber Spaß beiseite:
Die Unterscheidung hilft vor allem dabei, einen kritischen Abstand zu den Erzählungen zu gewinnen, die einem täglich um die Ohren fliegen. Was für eine Aussage steckt da eigentlich in dieser Geschichte? Wem dient sie? Stimmt sie überhaupt? Im Strudel der Falschinformationen wird kritisches Hinterfragen immer wichtiger.
→ Im Unternehmensalltag
Auch im Unternehmensalltag hilft es, sich Narrative bewusst zu machen:
Narrative prägen Unternehmensrealitäten. Im Business-Alltag begegnen uns permanent Narrative, die bewusst eingesetzt werden, um Unternehmen auf Kurs zu halten oder Produkte zu verkaufen. Wir nennen sie nur nicht so. Stattdessen reden wir von Mission, Vision, Markenkern, Purpose oder Kernbotschaften. Und genauso gibt es auch in Unternehmen unbewusst zirkulierende kulturelle Narrative, die allen Mitarbeitenden „erklären“, wie der Laden läuft.
Die Suche, Analyse und das bewusste Formulieren von Narrativen schafft strategische Klarheit. Ein einfaches Narrativ macht komplexe Strategien und Produkte verständlicher. Es kann deinem Unternehmen helfen, sich klar zu positionieren und deine Marke klar abzugrenzen. Zugleich hilft es dabei, internes Alignment zu erzeugen. Ein bewusst formuliertes, klares Narrativ lässt alle an der gleichen Geschichte arbeiten.
Aber: Die praktische Arbeit mit und an Narrativen birgt auch immer die Gefahr, sich in “Wordplay” zu verheddern – und Wochen damit zu verbringen, Bedeutungskerne perfekt auszuformulieren. Wenn das passiert, hilft es, sich daran zu erinnern, dass Narrative nur durch gute Geschichten wirken können. Es empfiehlt sich dann, mit der Story anzufangen, die sich gerade greifen lässt.