Ich kenne sie nicht. Sie tragen Wikingerhelme. Sie halten Kaffeetassen in die Luft und sie jubeln. Für mich.
O.K., es ist nur ein Video, das auf meinem Bildschirm abläuft. Trotzdem erfüllt mich der Jubeln mit Stolz. Denn seit Sonntag Abend darf ich mich als einen von vielen Gewinnern des National Novel Writing Month bezeichnen. Der National Novel Writing Month (oder auch Nanowrimo) fordert Autoren heraus, im Laufe des Novembers 50.000 Wörter zu schreiben und damit den ersten Entwurf für einen Roman zu Papier zu bringen.
Mit dem Video wird jeder Teilnehmer geehrt, der bis zum 31.November 50.000 oder mehr Worte auf der Plattform nanowrimo.org eingecheckt hat. Eine virtuelle Siegerehrung. Ich hab es geschafft.
50.000 Wörtern in 30 Tagen. Das bedeutet 1666 Wörter am Tag. Neben der Arbeit, die sonst schon 100% der Zeit einnimmt. Schnell habe ich da gemerkt, dass bei diesem Schreibpensum kein Platz bleibt für Perfektionismus bleibt.
Es galt: Done is better than perfect.
Beim NaNoWriMo geht es auch gar nicht so sehr um Qualität. Das Programm folgt der Philosophie, dass es besser ist einen rohen Text zu Papier zu bringen und ihn anschließend zu verbessern – als einen „perfekten Roman“ im Kopf zu haben, der nie zu Papier gebracht wird. Dementsprechend endet das Programm auch nicht mit der Veröffentlichung des Geschriebenen. Sondern mit dem Versprechen des Teilnehmers, das Geschriebene zu überarbeiten. Das Versprechen habe ich gegeben. Aber noch nicht erfüllt. Deshalb möchte ich noch nichts über die Geschichte verraten. Sondern berichten, wie ich es geschafft habe, 1666 Wörter am Tag zu schreiben. Und was ich dabei gelernt habe.
Ein großer Brocken lässt sich nur in kleinen Bissen verspeisen.
Schon lange hat mich fasziniert, wie es Autoren schaffen, einen langen Roman zu schrieben. Wie ist es möglich, solche Textmengen zu produzieren? Vor allem, wenn man nicht in Vollzeit an dem Text arbeiten kann. Denn dieser Luxus ist nur wenigen Autoren vergönnt.
Der Nanowrimo hat mir bewiesen, dass lange Texte dadurch entstehen, sie in kleine handhabbare Abschnitte zu zerteilen, die sich in einem Rhythmus abarbeiten lassen.
Nach diesem Monat weiß ich, dass ich 1666 Wörter pro Tag schreiben kann. Allerdings fühle ich mich wohler, wenn ich es in zwei Abschnitte á 800 Wörter aufteile. Und ich weiß, dass ich meinen Perfektionismus und die Scheu anzufangen austricksen kann, indem ich mir ein nicht inhaltliches Ziel setze. Sei es, indem ich mir ein zu erreichendes Wortziel setze oder eine Zeitraum definiere in dem ich nicht aufhöre zu schreiben. Frei nach dem Motto von Ray Bradbury: „You fail only if you stop writing.“
Der Inhalt will geplant sein, genauso wie der Prozess.
Ganz ohne Vorbereitung bin ich nicht in den November gestartet. Ab September habe ich mir lose Ideen und Entwürfe notiert, die ich zu einer längeren Geschichte ausarbeiten wollte. Den eigentlichen Nanowrimo habe ich in der letzten Oktoberwoche geplant. Auf einer Pappe, meinem Konzept-Board, habe ich meine Ideen zum Inhalt visualisiert und skizziert, wie ich mir den Arbeitsprozess vorstelle. Denn aus meinen Kundenprojekten habe ich gelernt, dass die Frage „Wie man ein Projekt angeht“ mindestens so wichtig ist wie die inhaltliche Idee.
Deshalb hatte mein Konzept Board zwei Bereiche: Die Story und den Prozess.
Auf der inhaltlichen Seite habe ich die handelnden Charaktere und ihre Verhältnisse zueinander skizziert. Auf einer anderen Karte habe ich die Geschichte in einem Satz zusammengefasst und die wichtigsten emotionalen Anker definiert. Darunter habe ich eine grobe Plot-Outline mit Post it Notizen aufgeklebt. Auf die rechte Seite habe ich alle meine Gedanken zum Arbeitsprozess gesammelt: Die Zeitfenster, die ich zum Schreiben hatte (zwischen 6:30-8.30Uhr und zwischen 19.00 und 21.00 Uhr). Aber auch auf welche Ereignisse ich mich vorbereiten muss, weil ich schon wusste, dass ich dann keine Zeit zum Schreiben haben würde. In diesem November war es ein Familienfest.
Die drei wichtigsten Karten auf dem Board waren jedoch: Die ‚Warum machst du das überhaupt?‘-Karte. Die ‚‚Was kann schiefgehen?‘-Karte. Sowie eine Karte, die mich daran erinnert hat, dass es beim Nanowirmo nicht um einen fertigen Bestseller geht. Es geht um einen Prototypen und die spielerische Erfahrung schnell eine so große Textmenge zu verfassen. Ich habe das für mich mit Sport verglichen. Die Grundvoraussetzung, um besser zu werden, ist regelmäßiges Training. Quantität führt dann auch zu qualitativer Verbesserung. Alle drei Karten haben mir geholfen, die zwischendurch aufkommende Zweifel zu überwinden.
Erst nach dem Tal der Zweifel kommt eine gelassene Produktivität.
In dem begrenzten Zeitraum eines Monats ist mir viel deutlicher als sonst geworden, wie stark die Emotionen gegenüber einem kreativen Projekt schwanken. Am Anfang herrscht Begeisterung. Dann folgen Ernüchterung und Zweifel. Danach pendelt sich ein nüchterner Arbeitsflow ein. Diese Schwankungen drücken sich auch in der Statistik über die eingecheckten Wörter aus. Große Schritte am Anfang. Dann ein Knick in der Mitte. Schließlich stetiger Fortschritt zum Ende hin. Was im Großen gilt, gilt auch für jeden einzelnen Textabschnitt. Manchmal startete das Schreiben mit Euphorie. Manchmal mit Widerwillen. Doch nach ein zwei Absätzen, verstummen diese Gefühle. Es stellte sich ein Flow ein. Die Worte entstanden einfach.
Eine neue Herausforderungen eröffnet neue Arbeitsweisen.
Mit dem Nanowrimo habe ich mir eine selbstgewählte Aufgabe gegeben, die den alltäglichen Arbeitstrott durcheinander gebracht hat. Schnell habe ich die Tage bemerkt, an denen ich mich mit Arbeit, Privatleben und Nanowrimo mächtig überplant hatte. Der entstehende Zeitdruck gepaart mit dem Wunsch, das Programm zu schaffen, haben mir einen angenehmen Schuppser gegeben, neue Arbeitsweisen auszuprobieren.
Zum Beispiel habe ich Dragon Dictate für mich entdeckt. Mit der Diktiersoftware konnte ich handschriftlich gemachte Notizen und Entwürfe einfach in den Computer entsprechen. Das ist viel angenehmer und schneller, als das elende Abtippen. Außerdem habe ich die Ziel-Funktion in meiner Schreibsoftware Ulysses entdeckt. Ich nutzte Ulysses, um ohne Ablenkung Entwürfe zu schreiben. Mit der Ziel-Funktion kann ich vorher bestimmen, wie viele Wörter ich schreiben möchte und sehe an einem kleinen Icon meinen Fortschritt. Ich bin für sowas echt empfänglich.
Interessanterweise hat die Energie, die ich in den Nanowrimo gesteckt habe, auch andere Projekte positiv beeinflusst. Durch das tägliche Vielschreiben habe ich geübt, den inneren Zensor auszuhebeln. Das hat dazu geführt, dass mir auch andere Texte & Konzepte viel lockerer von der Hand gingen (die meisten jedenfalls).
Und noch eine Sache ist mir mehr als deutlich geworden: Bevor ich anfangen kann zu schreiben, muss ich ganz bewusst das WLAN am Rechner deaktivieren. Sonst ist die Verlockung zu groß, in einem Moment in dem das Schreiben kurz stockt, sofort zu Facebook, Twitter oder SPON zu springen.
Wahrscheinlich steckt hinter dieser Erkenntnis die wichtigste Lektion, die ich aus dem Programm mitgenommen habe: Es ist ein gutes Gefühl sich zu fokussieren, bewusst aus dem Stream der Ereignisse und Gespräche auszusteigen, und etwas zu produzieren. Und sich medial immer mal wieder auszuklinken, ist gar nicht so schwer, wie es sich anfangs anfühlt.
Jetzt bin ich gespannt, den eigenen Entwurf zu lesen, der im letzten Monat entstanden ist. Und ihn zu überarbeiten. Welche Gedanken werden mich beim Lesen überraschen. An welchen Stellen muss ich streichen. Was kann so stehen bleiben? Habe ich alle Handlungsfäden in der Hand behalten? Funktioniert die Geschichte überhaupt?
Doch egal was inhaltlich am Ende stehen bleibt, allein durch das Machen habe ich nur neue Dinge gelernt. Es hat vor allem mächtig Spaß gemacht. So und jetzt freue ich mich noch eine klitzekleine Weile über die Wikingerhelme und das Jubeln.